Die Zurückeroberung der Kindheit

Kathrin Familie Leave a Comment

Anna Noss ist Pädagogin und schreibt auf ihrem großartigen Blog Kinderwärts für alle, die mit Kindern in Kontakt sind, vor allem aber für Kolleg*innen. Sie möchte sie begleiten und ermutigen wertschätzend und gleichwürdig mit Kindern umzugehen und ein Umdenken in Kita und Schule anregen. Sie schreibt, berät online und bietet Workshops an, außerdem hat sie einen Malort in Zürich. 

Anna-Noss
In ihrem wunderbaren Gastartikel erinnert sie uns daran, warum ungestörte Zeit in der Natur wichtig und wertvoll ist für unsere Kinder.

Viel Spaß beim Lesen!
Eure Kathrin

Kindheit. Was löst dieser Begriff bei dir aus?

Ich denke an meine Kindheit gerne zurück. Ein Haus direkt am Wald, stundenlanges Herumstromern in den Wäldern, ungestörtes Spiel im Garten, den Hügel runterkullern wieder und wieder (und wieder), schaukeln und singen im Garten. Himbeeren und Brombeeren direkt vom Strauch naschen und Stachel- und Johannisbeeren wieder ausspucken, weil sie viel zu sauer waren. Äpfel pflücken und sammeln und Apfelsaft im Keller herstellen.

Im Winter kleine Wege trampeln im frisch beschneiten Garten, Schlitten fahren (wahlweise auf einer Plastiktüte), mit durchnässten Handschuhen einen Schneemann bauen bis zum Einbruch der Dunkelheit. Den Weihnachtsbaum mit Papa zusammen aussuchen und mit Hund und Schlitten nach Hause bringen. 

Im Frühjahr dann kleine Nester aus Moos für den Osterhasen bauen und staunen, dass sie gefüllt sind am nächsten Tag. 

Klingt nach Bullerbü. Aber ja. Ich habe aber auch drinnen mit Playmobil und Barbie gespielt oder Post und Büro, was habe ich das geliebt. Auch heimlich ferngesehen, wenn Mama auf der Arbeit war. 

Wir haben Aufführungen gemacht und dafür einen Vorhang aus 1000 A4Blättern und Kostüme gebastelt und überhaupt jede Menge Unfug getrieben… 

Und das alles stundenlang und ungestört. 

Meine Kindheit war wunderschön und unbeschwert. (Sie hatte nur den kleinen Haken, dass ich irgendwann in den Kindergarten und in die Schule musste. Das war nicht gut. Link: https://www.kinderwaerts.de/einbriefanmeinelehrerin/)

Sehr viele Menschen erzählen von einer unbeschwerten Kindheit. Es gab zwar die Schule, die auch fast jeder doof fand. Aber nachdem die Schulglocke bimmelte, wartete da draussen die Freizeit und somit Freiheit auf uns. Die schon damit begann, dass ich auf dem Nachhauseweg trödelte.

Kindheit-geniessen

Trödeln

Das dürfen sich Kinder heute nicht mehr leisten. Wenn sie nicht pünktlich zu Hause sind, klingelt ja schon das Handy mit der Frage, ob alles ok sei und wo sie denn bleiben. Nicht, weil Eltern kontrollieren wollen, nein, aus Angst und Sorge. In der Grundschule in Berlin wurden Kinder bis zur 6. Klasse abgeholt und teilweise direkt von der Klassentür. Nein, ich übertreibe nicht. 

Es gibt eine Entwicklung in unserer Gesellschaft, die Kindern immer weniger eigenen Freiraum zugesteht. Was wir tun? Wir passen ziemlich gut auf unsere Kinder auf: Sie werden gebracht, geholt, auf dem Spielplatz sitzen wir daneben und am Wochenende unternehmen wir Dinge MIT unseren Kindern zusammen oder sie verbringen ihre Freizeit in weiteren Vereinen, Institutionen, bei denen es immer Erwachsene gibt, die beaufsichtigen. 

Alleine in den Wäldern oder in den Hinterhöfen unterwegs sein, gibt es wirklich nicht mehr so häufig. Und wann immer ich mich mit Eltern unterhalte, träumen sie von der eigenen Kindheit, in der sie das erleben durften und sagen aber immer: „Ganz ehrlich, ich lasse mein Kind auch nicht alleine den Nachmittag gestalten oder draussen alleine rumlaufen.“

Warum ist der unbeaufsichtigte Freiraum für Kinder so wichtig?

Das kindliche Spiel und die freie Gestaltung sind eigentlich die wichtigsten Bestandteile von Bildung. Kinder ihr Ding machen lassen. Im Spiel organisieren sie sich, bewähren sich und verfolgen ihre Ziele. Dort lernen sie eigentlich die wichtigsten Kompetenzen. Eigentlich. Denn in dieser verrückten Welt, in der wir leben, denken wir, wir hätten ein „besseres Programm“  für unsere Kinder. Ein Programm, was mit Büchern, am-Tisch-sitzen, Heften und Tafeln zu tun hat. Freiraum sehen wir nicht als Bildung an. Wir kennen das so aus unserem eigenen Leben: erst die Arbeit, dann das Vergnügen. 

Das ist die eine Seite, die vor allem immer mehr Raum in unseren Kitas und Schulen sowieso einnimmt.

Dann gibt es aber wie gesagt auch viele Menschen, die es nicht schaffen, ihren Kindern diesen Freiraum zuzugestehen, weil sie Angst haben und sich große Sorgen machen, was alles passieren könnte, wenn das Kind alleine unterwegs ist. 

Das Draußen 

Das Draußen und die Natur ist für Kinder keine nette Beilage ihrer Kindheit, nein, es ist der Entwicklungsraum ihrer Kindheit. Berauben wir sie darum, rauben wir ihnen die besten Entwicklungschancen. 

„Sie müssen wachsen an den Schätzen, die sie heben im Alltag. Wir Erwachsene können das nicht für sie erledigen. Je vorgegebener eine Umgebung ist, desto weniger finden Kinder ihre Zone, in der sie weder unter- noch überfordert sind. Die Natur dagegen ist dafür ideal.“* 

Kinder brauchen kein Disneyland

Wenn die ältere Generation anmerkt, „dass hat’s bei uns alles nicht gegeben“, dann heißt das zwar nicht, früher war alles besser. Sicherlich nicht. Aber es stimmt, das hat es nicht gegeben und es hat auch nicht gefehlt. In der Welt von Michel, Lotta, Bullerbü & Co von Astrid Lindgren wird uns genau von dieser Zeit erzählt. Und ALLE lieben diese Geschichten, wir genauso wie unsere Kinder. 

Die Kinder in diesen Geschichten erleben Abenteuer, aber im Grunde sehr, sehr simpel eingebettet in ihren Alltag.

Irgendwie denken wir seit einigen Jahren, Kinder bräuchten Events, tolle Museumsbesuche, … Vor allem für kleine Kinder ist das oft viel zu viel. Sie können das gar nicht verarbeiten und erleben eher einen innerlichen Stress. 

Bücher, Blogs und Magazine boomen, die Städte und Regionen und deren Attraktionen und Orte vorstellen, die gut und toll für Kinder sind. Dagegen ist an sich überhaupt nichts einzuwenden. Gegen eine Adresse für ein kinderfreundliches Café ist nun wirklich nichts zu sagen!

Wir verlieren dabei nur oft den Alltag aus den Augen. 

In meinen Gruppen in der Schule habe ich nicht selten Kinder erlebt, die noch nie ein Brot zu Hause gebacken haben, die nicht wissen, wie man einen Tisch abwischt, die noch nie frische Himbeeren vom Strauch genascht haben, die noch nie Marmelade eingekocht haben oder noch nie geholfen haben, etwas zu reparieren.

Erlebnisse, für die man kein Haus am Wald braucht, das geht auch in der Stadt.

Wir müssen raus aus künstlichen Situationen, in denen sich Erwachsene ausdenken, was Kinder lernen sollen und wofür sie sich bitteschön interessieren sollen. Rein in das echte Leben. Und das findet im Alltag statt. Beim Kochen helfen, mit einem echten Messer schneiden, wirklich etwas beitragen und Teil dessen sein, nicht nur eine Art Beschäftigungstherapie. 

Und es findet vor allem draußen statt. Auf Bäume klettern, Höhlen bauen, mit Stöcken spielen, matschen, Tiere entdecken und ja auch mal Unfug treiben. 

Das sollen Kinder auch unbedingt mal alleine machen dürfen. 

Denn wer kann denn bitte entspannt da stehen und zusehen, wie Kinder auf Bäume klettern und mit Stöcken gefährlich nah am Auge rumfuchteln? Du nicht? Eben. 

Übrigens evolutionär gesehen sind Kinder im sogenannten Mittelalter (ab drei Jahren) immer unter Kindern gewesen. Nicht nur gleichaltrige Kinder, das ist auch wieder so eine Erfindung der Neuzeit, sondern Kinder, die jünger und älter waren. Zusammen spielten sie, erkundeten die Welt und organisierten sich. 

Hier begreifen Kinder nun soziale Zusammenhänge. Sie nehmen die Welt auseinander und setzen sie wieder neu zusammen.*

Sie machen in diesen Gruppen etwas, was sie alle als tiefes Bedürfnis in sich tragen: Sie spielen. Und man könnte sagen, sie erspielen sich grundlegende Lebenskompetenzen. 

unbeschwerte-Kindheit

Und warum das am Besten draußen stattfindet?

Zu 99% lebten wir Menschen während unserer Menschheitsgeschichte in der Natur. Evolutionär betrachtet waren die Bedingungen für das Aufwachsen von Kindern immer das Draußen. 

„Kinder brauchen also das gleiche Maß an Bewegung, um gesund zu bleiben, wie vor Tausenden von Jahren. Sie brauchen dieselben Zutaten, um ihr Urvertrauen auszubilden. Sie bilden ihr soziales Rückgrat nicht anders als Kinder früherer Generationen.“*

Wenn Kinder beispielsweise im Garten mit Matsch spielen oder nicht vom Wasserhahn wegzubekommen sind, dann sollten wir das NICHT unterbrechen, um sie an einen Tisch zu setzen, wo sie Zahlen aufschreiben sollen oder Frühenglisch lernen sollen. 

Wir sollten sie einfach machen lassen. Denn das, was wir unterbrechen ist ernst, sehr ernst. Sie lernen. In diesem Fall machen sie sich mit den Grundkonzepten der Physik vertraut. 

Und da wir als Menschen von draußen kommen, fühlen sich vor allem kleine Menschen dort auch sehr wohl. Auch das sehen wir an ihrem Spiel: sich jagen und fangen, mit Stöcken spielen (!!!), Hütten und Höhlen bauen. Kinder suchen elementare Erfahrungen. Sie sind fasziniert von den ursprünglichen Elementen, Feuer, Wasser, Erde, Luft.

Kindheit und Freiheit

Die Kindheit unserer Kinder ist so durchorganisiert. Hören wir auf damit. 

Dafür müssen wir unsere Ängste und Sorgen los lassen. Wir dürfen Kinder selbstbestimmt im Freien spielen lassen. 

Es „kann ein Gegengift sein gegen die schleichende Enteignung der Kindheit. Gegen die maßlosen Anregungen durch die Großen, die überdimensionierten Lernportionen, die übermotivierte Behütung. Die Erfahrungen im Freien – und das lässt sich sogar wissenschaftlich belegen – geben Selbstvertrauen.“*

Lasst Kinder losziehen. In die Welt. Ich meine damit nicht, wenn sie fürs super Studium nach dem super Abi ausziehen. Sondern heute, hier und jetzt. 

Lasst Kinder trödeln. Gebt den Kindern Freiheit, damit schenkt ihr ihnen selbst gemachte Erfahrungen und Kindheitserinnerungen a là Astrid Lindgren, mehr kann man sich von einer Kindheit ja gar nicht wünschen. 

*Herbert Renz-Polster aus „Wie Kinder heute wachsen“*

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