Fetale / Neonatale Alloimmunthrombozytopenie – oder auch F/NAIT

Kathrin Gastartikel 2 Comments

15. März 2014. Ein Oberarzt kommt ins Zimmer. „Wir müssen Ihr Kind jetzt mit- nehmen.“, sagte er. Wie er hieß, weiß ich nicht mehr. Weißer Kittel, ich glaube ein Bart, eine Brille. Er nahm das Beistellbett und schob meinen Sohn raus. Einfach so. Kein „Wollen Sie mitkommen?“ Er sprach kaum, nur einsilbige Antworten auf unsichere Fragen von mir. Ich weinte. Ich rief sofort meinen Mann an. „Unser Kind muss in die Kinderklinik!“, rief ich schluchzend ins Handy, „Nein, ich weiß nicht warum. Jetzt geht es in den Fahrstuhl, die Verbindung ist gleich weg…“

Unser Sohn war ein Spät-Frühchen, geboren bei 36+3, klein und zierlich. Prädestiniert für die typische Frühgeborenengelbsucht, zumal mein Baby durch mein Rhesus negativ auch noch zur Risikogruppe gehörte. Wäre es nur das gewesen! Als der Oberarzt drei Tage nach der Geburt mir unser Kind wegnahm, rechnete ich mit nichts Schlimmeren als ein paar Stunden blaues Licht. Aber beim Check-Up der Blutwerte stellte man fest: Der Thrombozytenwert ist ganz schön niedrig. Und überhaupt: Warum hat der Kleine so viele Petechien* am ganzen Körper? (*Anm.: stecknadelkopfgroße Ein- blutungen) Über eine Woche später wurden wir erst entlassen. Der Thrombozytenwert hat sich von selbst auf ein normales Maß geregelt. Aber wie das?

Im Grunde sind wir mit einem blauen Auge davon gekommen. Andere hatten nicht so viel Glück. In unserer Community auf Facebook ist unter anderem auch Tinchen. Tinchen und Ihr Mann mussten Ihr Kind aufgrund des zu geringen Thrombozy- tenwertes zu den Sternen ziehen lassen, sie erzählt:
„Bei 30+6 hatte wir das 3. Screening und unsere größte Sorge war das der Kleine an meinem Geburtstag auf die Welt kommt. Entbindungstermin war zwei Tage nach meinem Geburtstag.

Beim Ultraschall sagte der Arzt dann, dass es Auffälligkeiten im Gehirn gibt und ich zur Pränataldiagnostik müsste. Es war Mittwochnachmittag vor Christi Himmelfahrt, natürlich war keiner mehr erreichbar. Also mussten wir vier lange Tage warten. Montag früh war dann der Termin in der Pränatalpraxis, fast 1,5 Stunden Ultraschall und Rumgedrücke auf dem Bauch. In der Auswertung sagte der Arzt nur ganz kalt, es bestünde eine unklare Raumforderung von 4x4cm und ein Hydrocephalus. Im Nachhinein weiß ich, das unser Baby vier Tage massiv geblutet hat und man ihm hätte helfen können. Bei einem Spezialisten-Termin in Berlin, mit einem weitaus sympathischeren und vor allem emphatischeren Arzt bestätigte sich der Verdacht der Hirnblutung, die betroffenen Bereiche: unter Anderem das Atem- und das Bewegungszentrum. Die Blutung hatte sogar in die Ventrikel ausgeflockt und zerdrückte die Hirnmasse. Es sah sehr schlecht aus für unseren Sohn. Nach diversen weiteren Gesprächen wurde klar, dass unser Sohn sehr wahrscheinlich unter der Geburt oder kurz danach versterben würde. Wir entschieden uns dafür ihn nicht leiden und ihn zu den Sternen reisen zu lassen. Er hatte nämlich schwere Anfälle in meinem Bauch. Schließlich wurde bei 33+6 eingeleitet und unser Engel wurde bei 34+1 still geboren.“

Was ist dieses F/NAIT und was macht es aus?

Es gibt so viele verschiedene Geschichten wie es unterschiedliche Familien gibt. Allein unser und Tinchens Beispiel zeigen, dass Welten zwischen den Fällen liegen können. Alle eint es, dass es meist erst nach der Schwangerschaft mit dem ersten Kind entdeckt wird oder wie in Tinchens Fall, wenn es bereits zu Spontanblutungen kam, denn: Blutplättchen, sprich Thrombozyten, sind für die Blutgerinnung verantwortlich. Hat man zu wenig Blutplättchen kann dieser körpereigene Weg der Heilung nicht passieren und in Folge dessen können schwere bleibende Schäden entstehen. Ein gesunder Mensch hat etwa 150.000 – 450.000 Blutplättchen. Mein erster Sohn hatte 44.000, gemessen drei Tage nach der Geburt. Andere betroffene Babys kommen mit weitaus weniger zur Welt. Zum Beispiel Jackies Sohn, er kam mit nur 5000 Blutplättchen zur Welt.

Aber warum haben die Babys denn überhaupt zu wenig Blutplättchen?

F/NAIT entsteht durch eine Unverträglichkeit zwischen den verschiedenen Plättchentypen zwischen der Mutter und ihrem Baby. Der Körper der Mutter registriert den Fetus als nicht körpereigen und bildet Antikörper gegen ihn, zerstört dabei so viele Blutplättchen wie nur möglich. Man könnte auch sagen: Vater und Mutter vertragen sich genetisch nicht, denn das Baby trägt nunmal auch immer die Merkmale des Plättchentyps des Vaters. F/NAIT tritt schätzungsweise bei einer von 1000 Geburten auf, Dunkelziffer hoch. Um den Seltenheitsfaktor noch zur unterstreichen spricht naitbabies.org außerdem davon, dass nur rund 2% der weltweiten Bevölkerung (sowohl männlich, als auch weiblich) HPA -1 negativ sind, sind also Träger des Plättchentyps HPA-1b/1b, die restli- chen 98% sind HPA -1 positiv, deren Plättchentyp nennen sich HPA-1a/1a oder auch HPA-1a/1b. Das bedeutet, dass es ohnehin schon großer Zufall ist, dass eine Frau mit HPA-negativ auf einen Mann mit HPA-positiv trifft. Und dennoch tummeln sich mittlerweile etwa 1500 Familien in Selbsthilfegruppen auf Facebook.

Ohne eine Behandlung während der Schwangerschaft besteht nun also das Risiko, dass das Baby eine extrem niedrige Anzahl von Blutplättchen aufweist. Es ist möglich, dass es aufgrund dessen dann zu Spontanblutungen (meist im Gehirn, Rücken- mark oder Abdomen) kommt. Dies kann während der Schwangerschaft oder auch in den ersten Wochen nach der Geburt vorkommen. Sobald Mutter und Kind voneinander getrennt sind, gelangen zwar keine neuen Antikörper in den Organismus des Babys, was bedeutet, dass die Anzahl der Blutplättchen des Babys sich von selbst wieder generiert. Allerdings benötigt dies nicht selten mehrere Wochen Zeit.

Schaubild FNAIT

Aber es gibt eine Behandlung!

Als ich nach der Geburt meines ersten Sohnes begonnen hatte mich über F/NAIT zu informieren, war ich geschockt und hatte fast damit abgeschlossen ein zweites Kind zu wollen. Die Behandlung sah bis vor kurzem noch so aus, dass man je nach Schwere- grad der F/NAIT beim ersten Kind in regelmäßigen Abständen in fachlich entsprechende Krankenhäuser fährt und das Baby dort Thrombozytenspenden über Nabelschnurpunktionen erhält.

Das wäre in meinem Fall nicht nur vom Zeitfaktor und Fahrweg her aufwendig gewesen, es ist auch für die Babys sehr gefährlich: Nabelschnurpunktionen können Kontraktionen der Gebärmutter, Infektion, vorzeitige Wehen, Fehlgeburten und auch Nabelschnurhämatome auslösen. Und diesem Risiko würde man sich je nach Schweregrad der F/NAIT bis zu 1 – 3x pro Monat stellen. Zusätzlich empfahl mir eine medizinische Hochschule in der Nähe das Kind spätestens in der 32. Woche per Kaiserschnitt zu holen, damit man es nicht unnötig oft diesen Punktionen aussetzt. Gott sei Dank hat sich da relativ schnell etwas getan in der Prävention!

Via naitbabies.org und der dazugehörigen Facebook-Gruppe lernte ich die Intravenösen Immunglobulin-Gaben kennen, kurz: IVIG. Dabei bekommt man ein Mittel direkt in die Vene, welches häufig bei Immunschwächen zum Einsatz kommt, um das Immunsystem und die Abwehrkräfte zu stärken. Noch ist man sich nicht zu 100% sicher, wie die Immunglobuline im Falle einer F/NAIT wirken. Aber das Immunglobulin G, welches wir Patientinnen verabreicht bekommen, ist das einzige was die Plazenta durchdringen und so in das Blut des ungeborenen Babys gelingen kann. Dadurch kann dieses Immunglobulin G das Baby sozusagen von innen heraus vor Krankheiten schützen.

Begonnen wird mit der Therapie meistens zwischen der 10. und 21. Schwangerschaftswoche, auch hier ist es wieder abhängig davon wie die vorherige Schwangerschaft verlief. Ein Spaziergang ist diese wöchentliche Gabe von IVIG jedenfalls nicht unbedingt, aber die meisten kommen ohne große Nebenwirkungen zurecht. Wichtig ist es, dass wir während der IVIG viel trinken, etwa 3 bis 4 Liter. So halten sich Nebenwirkungen wie Herzrasen oder Kopfschmerzen und allgemeine Schlappheit in Grenzen. Vereinzelt treten auch schwerere Nebenwirkungen auf, diese sind jedoch deutlich in der Unterzahl. Nebenbei arbeiten? Auf jeden Fall machbar! Bedenkt man jedoch, dass die Infusionen zur Vermeidung von Nebenwirkungen sehr langsam laufen müssen und man dadurch einen kompletten Tag verliert und man zu Hause ja zumeist noch ein Kleinkind zu betreuen hat, haben sich bislang viele dazu entschieden früher oder später ins Beschäftigungsverbot zu gehen.

Bei meiner letzten IVIG habe ich in Zahlen zusammen gefasst was diese Behandlung für mich bedeutete:

Es waren 18 IVIG, in insgesamt 112 Stunden oder auch 4 Tagen und 16 Stunden habe ich insgesamt 15,2 Liter Infusionslösung erhalten, dabei insgesamt 60 Liter Flüssigkeit zusätzlich zu mir genommen. 5 Stunden und 25 Minuten hing ich davon am CTG und insgesamt 13x habe ich zusätzlich einen Ultraschall erhalten.

4x wurde beim Zugang legen daneben gestochen, sodass ich nochmal gepiekst wurde. 9x wurde der Blutdruck gemessen und doch ganze 4x erhielt ich ein Mittagessen und zwar immer Nudeln mit Tomatensoße.

… Aber lieber 4x Nudeln mit Tomaten-Soße als regelmäßige Nabelschnurpunktionen, nicht wahr? Die Erfolgsrate der IVIG ist hoch: In 95% der Fälle kommen die Babys mit einer normalen hohen Zahl von Blutplättchen zur Welt und benötigen keine weitere Behandlung. Meinen zweiten Sohn habe ich nach nicht mal 24 Stunden in der Geburtsklinik mit nach Hause genommen. Er hatte dank der IVIG eine Blutplättchenzahl von 173.000!

Dank regem Austausch sowohl in der deutschsprachigen als auch in der internationalen NAIT- Facebook-Gruppe gibt es immer mehr solch positiver Meldungen. Denn gerade wenn eine Erkrankung derart selten ist, ist es umso wichtiger, dass wir Eltern zusammen halten. Uns gegenseitig austauschen, informieren und ein offenes Ohr für alle Sorgen und Ängste haben. Eltern werden so zu Experten. Dank mittlerweile 96 Mitgliedern in der deutschsprachigen Facebook-Gruppe helfen wir uns so gegenseitig bei Anträgen für die Krankenkasse, die die Kostenübernahme der IVIG leider nur zu gern im ersten Durchgang ablehnen. Wir berichten immer und immer wieder für Neuankömmlinge von unseren Erfahrungen und haben somit ein ums andere Mal dafür gesorgt, dass sich eine Familie doch noch für weiteren Nachwuchs entschieden hat. Denn auch bei allen positiven IVIG-Verläufen darf man eines nicht vergessen: Bei fast allen von uns sitzen die schrecklichen Erinnerungen an den Ausgang der ersten Schwangerschaft tief: Un- wissende Ärzte, Ungewissheit über den Gesundheitszustandes unserer Babys, ständige Blutabnahmen bei den Kleinen- aber auch bei uns Eltern, langwierige Krankenhausaufenthalte – das alles gehört genauso zur F/NAIT wie die rein pathologische Seite.

Zu guter Letzt…

Die NAIT Awareness Week will dazu beitragen, diesem Phänomen zu mehr Bekanntheit zu verhelfen. Die Forschung steckt nach wie vor in den Kinderschuhen, wenngleich sich in den letzten Jahren viel getan hat. Ziel ist es, dass es in Zukunft eine der Anti-D-Pro- phylaxe ähnliche Verfahrensweise gibt, um NAIT rechtzeitig zu erkennen.

Ein paar Fakten zum Schluss:
Kosten der IVIG-Therapie bei Beginn in der 20. Schwangerschaftswoche: im Durch- schnitt um die 150.000,00 €
Eine Mutter der internationalen Gruppe hat 7 Kinder, 6 davon dank IVIG
Positive Verlaufe in unserer Facebook-Gruppe, ein paar Beispiele:
Mama: Jackie, Kind 1: 5000 Thrombozyten, Saugglockengeburt, Reanimation, Kind 2: 127.000, gesund
Mama: Katha, Kind 1: 11.000 Thrombozyten, Kind 2: 149.000
Mama: Carina, Kind 1: 44.000 Thrombozyten, Kind 2: 173.000
Mama: Kati, Kind 1: 50.000 Thrombozyten, Kind 2: 183.000
Mama: Tinchen, Kind 1: verloren, Regenbogenkind: 12.000 trotz IVIG, dennoch ohne schwere Blutungen beim Kind
Mama: Marion, Kind 1: 1000 Thrombozyten, Kind 2: 166.000

Quelle: https://www.naitbabies.org/resources/what-is-nait/ (Literaturhinweise auf der Website)

Heute habe ich einen sehr bewegenden und höchst informativem Gastartikel über für euch, dessen Ziel Aufklärung ist. Unbedingt  lesen und teilen! 

Disclaimer: Es wird größtenteils vom Einzelschicksal der Autorin berichtet. Aber jedes Krankenhaus behandelt die FNAIT-Schwangere anders und auch jede Schwangerschaft verläuft natürlich anders. Deshalb bestehen trotz gleicher „Basis-Behandlung“ durch- aus unterschiedliche, individuelle Behandlungspläne.

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