Katja ist dreifache Mutter, Sonderpädagogin und eine wunderbare Autorin, weswegen ich mich sehr über ihren Gastartikel freue und über ihre Einladung, fremde Kinder, sogenannte „Spielplatz-Rowdys“, aus einem bedürfnisorientierten Blickwinkel zu betrachten.
Viel Spaß beim Lesen
eure Kathrin
Neulich war ich auf unserem Spielplatz und sah ein Mädchen von etwa zwei Jahren im Sand sitzen und buddeln. Direkt neben ihr saß Mama, allerdings interagierten die beiden nicht miteinander, weil das Mädchen voll im Flow war und die Mutter vor sich hin träumte. Nach ein paar Minuten kam eine andere Mama und sprach die Kleine an, denn sie hatte offenbar eine Schippe von einem Jungen mitgenommen und diese Schippe wollte die Mutter des anderen Kindes nun zurück haben.
Leider reagierte die Zweijährige überhaupt nicht auf die Ansprache. Seelenruhig buddelte sie weiter. Die andere Mama blieb wirklich ruhig und probierte freundlich allerlei Dinge aus, um das Mädchen dazu zu bewegen, die Schippe freiwillig abzugeben. Sie bot ihr andere Schippen an, erklärte, dass sie nun nach Hause gehen wollten und ihr eigenes Kind schon ganz traurig sei, dass die Schippe immer noch fehle, sie zog vorsichtig an der Schippe. Die Zweijährige ließ sich nicht erweichen. Stur und ohne merkliche Reaktion auf das Gebaren der fremden Frau hielt sie die Schippe fest und buddelte weiter ihren Sandkuchen. Verärgert schielte die fremde Mutter immer wieder zu der daneben sitzenden Mama. Es war klar ersichtlich, dass sie sich fürchterlich ärgerte, dass diese nicht eingriff und ihr Kind zur Räson brachte. Stattdessen – war das nicht frech?- drehte sich die Mutter sogar noch weg, so dass sie das Drama nicht beobachten musste.
Man konnte den Denkprozess der Mutter, die gern ihre Schippe wieder haben wollten, ganz wunderbar in der Mimik ablesen. „Boah“, dachte sie, „schon wieder so Eine, die sich nicht traut, zu erziehen!“ Relativ wütend riss sie nun der Kleinen die geklaute Schippe einfach aus der Hand und ging damit zu ihrem wartenden Sohn. Natürlich begann nun die Zweijährige laut und durchdringend zu weinen. Die Schippe war weg, wuääääh! Doch noch immer reagierte die Mutter neben ihr nicht, ja, ich sah sogar, wie sie sich noch ein Stückchen mehr von dem greinenden, Trost suchenden Kind wegdrehte! Was war da los?
Nach einer Minute löste sich aus einer weiter entfernt stehenden Gruppe eine Frau und lief, alarmiert durch das Schreien, auf die Zweijährige zu. Sie nahm sie auf den Arm und gurrte beruhigend: „Na, meine kleine Weltenbummlerin, was ist passiert?“ Das war die richtige Mutter der Kleinen und sie hatte nichts von der gesamten Situation mitbekommen! Ich schaute wieder zurück zu der vermeintlichen Mama. Zu der, die sich weggedreht hatte. Aus der Richtung, in die sie geschaut hatte, kam nun eine etwa Dreijährige vom Schaukeln zurück und stürzte sich in ihre offenen Arme. Ich prustete laut vor Lachen los. „Tja,“ dachte ich, „manchmal ist in Wirklichkeit alles anders, als man denkt“.
Ich erzähle euch diese Anekdote, weil sie mich an einen Artikel der Stadt-Land-Mamas erinnert, in der Bloggerin Katharina eine Begegnung mit einem frechen Kind und seiner desinteressierten Mutter auf dem Spielplatz hatte. Sie fragte sich damals, wie sie mit diesem Jungen umgehen solle, der ihre Tochter gebissen und andere Kinder drangsaliert hatte und dessen Mutter wirklich überhaupt nicht darauf reagierte. Das ist ein Thema, das tatsächlich viele Eltern bewegt. Wie soll man mit Spielplatz-Rowdys umgehen? Soll und darf man ein fremdes Kind zurecht weisen? Sollte man die Eltern des Kindes ansprechen und auffordern, es zu erziehen? Wie sollte man sein eigenes Kind vor einem solchen Störer oder Beißer schützen?
Ich denke, wir alle kennen solche fremden Kinder, die von ihren eigenen Eltern unbeobachtet einfach über den Spielplatz streifen, und ungeniert Kleinere umschubsen, mit Stöckern um sich hauen und sich ganz allgemein gesagt einfach unmöglich benehmen. Meine Töchter litten lange Zeit unter so einem Jungen. Er ging in ihre Kita (aber nicht in ihre Gruppe) und wir sahen ihn jeden Nachmittag auf dem Spielplatz. Er war überall schon bekannt als „das Arschlochkind„. Ich mag diesen Begriff nicht, und würde ihn niemals anwenden, aber ehrlich gesagt nervte der Junge auch mich gewaltig. Wenn irgendwo ein Kind anfing zu weinen, brauchte man gar nicht weit schauen – er stand immer dabei und war immer der Grund für das Weinen.
Einer meiner Töchter piekte er mit einem Ast ins Gesicht. Er traf kurz neben das Auge! An einem anderen Tag kletterte meine andere Tochter gerade die Leiter des Klettergerüsts hoch, da drängelte er sich von unten an ihr vorbei, überholte sie, guckte dann im Klettern von oben auf sie herab und trat mit voller Absicht mit seinen Schuhen auf ihre Hand, mit der sie sich gerade an der Sprosse festhielt! War das zu fassen? Ab da hatte ich ihn immer im Blick. Ich war sofort zur Stelle, wenn er sich meinen Töchtern näherte und stellte mich schützend vor sie. Ich beobachtete, wie andere Kinder auf ihn reagierten. Er brauchte nur irgendwo hin schlendern, schon verstummten alle Gespräche. Mutigere Kinder stellten sich direkt vor ihn und bevor er noch irgendwas tun konnte, sagten sie schon: „Geh weg, oder ich gehe es sagen!“ Keiner wollte mit ihm spielen. Eine gerechte Strafe für sein Verhalten? Kinder sind ja mitunter sehr direkt in ihrer Rückmeldung.
Ehrlich gesagt tat er mir ab da ein bisschen leid. Klar, er benahm sich ätzend und alle Kinder hatten wirklich Angst vor ihm, aber dass er so als Paria behandelt wurde, gefiel mir nun auch wieder nicht. Als Sonderpädagogin weiß ich, dass jedes gemeine Verhalten eines Kindes einen Grund hat. Es sagt damit eigentlich nur: „Mir geht es nicht gut. Gibt es hier jemanden, der hinter mein Verhalten schaut und mir zuhört?“ Weil ich aber als Mutter und nicht als Sonderpädagogin auf dem Spielplatz war, fiel es mir lange Zeit schwer, seinen Hilferuf hinter seinem „Arschlochverhalten“ zu hören. Ich war einfach nur sauer mit ihm, und genervt, dass ich wegen ihm nicht ruhig auf der Bank entspannen konnte, sondern immer in Hab-Acht-Stellung aufpassen musste. Als ich aber sah, dass er selbst verschuldet so gar keinen Anschluss mehr fand, machte ich mir Sorgen. Aus pädagogischer Erfahrung weiß ich nämlich, dass sich so ein anti-soziales Verhalten schnell verfestigt, wenn das Kind in diesen Teufelskreis aus Ärgern und Zurückweisung gerät. Irgendwann glaubt das Kind selbst, dass es „böse“ ist und „betraft gehört“ und schafft es nicht mehr, seine vorhandenen sozial-kooperativen Ressourcen zu aktivieren.
Ich besann mich also auf meinen eigenen Leitsatz: „Bedürfnisorientierte Erziehung hört nicht beim eigenen Kind auf!“ und öffnete mein Herz für ihn. Ich beobachtete ihn weiterhin, aber diesmal, um herauszufinden, was er wirklich von uns brauchte, und nicht, um ihn vom Ärgern abzuhalten. Ich sah, dass seine (sehr liebevolle!) Mama vor einem halben Jahr ein weiteres Baby geboren hatte und wenig Zeit für ihn fand. Er war der Große und musste oft allein klar kommen, während der mittlere Bruder, der erst 2,5 Jahre alt war, natürlich weiterhin ihre Aufmerksamkeit bekam. Ich sah, dass viele seiner Aktionen, die dann in Streit endeten, eigentlich unglücklich gelaufene Kommunikationsversuche waren. Er wollte mitspielen, aber konnte das nicht adäquat gesellschaftstauglich ausdrücken, obwohl er schon 4,5 Jahre alt war und gut sprechen konnte.
Eines Tages im Herbst nun knieten meine Töchter und ich auf dem Spielplatz-Boden und versuchten, Kastanien mit Steinen klein zu hauen. Wir wollten daraus Waschmittel herstellen und sahen wohl ein wenig seltsam aus.
Unser „Spielplatz-Rowdy“ stellte sich mit etwas Abstand neben uns und schaute uns verwundert zu. Ich wartete eine Weile, ob er es schafft, uns anzusprechen, doch er blieb stumm. Ich schaute ihm in die Augen und beantwortete seine unausgesprochene Frage: „Wir zerkleinern die, weil wir daraus Waschmittel machen wollen. Kastanien haben im Inneren ein bisschen Seife“. Er nickte, sagte aber nichts. Ich lud ihn ein, mitzumachen: „Wir könnten Hilfe gebrauchen, das Zerkloppen ist nämlich irre schwer. Machst du mit?“ Weiterhin ohne einen Ton schnappte er sich nach kurzem Zögern einen Stein, kniete sich neben uns und half, unsere Kastanien zu zerkleinern. Nach einer viertel Stunde harter Arbeit rief seine Mama ihm zu, sie wolle nun gehen. Er stand auf und sah auf seine zerkleinerten Kastanien. Ich fragte: „Möchtest du welche mitnehmen?“ Er schüttelte den Kopf, drehte sich um und lief weg. Wir hatten die ganze Zeit zusammen gespielt, ohne zu reden, und es war schön gewesen.
Am nächsten Tag sah ich ihn wieder. Meine Kinder sammelten gerade mit ihren Freundinnen Kastanien unter einem großen Baum. Sie kicherten miteinander und redeten über allerlei wichtigen Blödsinn, wie es nur Vierjährige können. Er suchte auch unter diesem Baum, doch er sammelte keine Kastanien, sondern schöne Blätter zu einem Strauß. „Ist der für deine Mama?“, sprach ich ihn freundlich an. Er lächelte scheu, nickte kurz und rannte gleich darauf davon. Wieder hatte es eine kurze Sequenz gegeben, in der er in Eintracht mit anderen gespielt hatte. Neben ihnen zwar, und noch nicht mit ihnen, aber immerhin. Ein Fortschritt.
Ich sprach auch – behutsam – mit seiner Mama. Solche Gespräche fallen mir unheimlich schwer, weil ich nicht kritisieren möchte, es jedoch leider oft so rüberkommt. Doch sie war, Gott sei dank, sehr aufgeschlossen und freundlich. Ich bat sie, etwas mehr Zeit mit ihm allein einzuplanen, wenn das Baby nicht mehr so arg klein wäre. Sie schaffte es tatsächlich, das umzusetzen und ihm mehr Aufmerksamkeit zu geben.
Nach und nach gelang, was ich mir gewünscht hatte. Der Junge bemerkte, dass wir ihn annahmen, wie er war. Er spielte immer öfter mit meinen Töchtern. Irgendwann fing er sogar an, mit uns zu sprechen ;-). Die Kinder auf dem Spielplatz bemerkten wiederum, dass er ruhiger wurde und waren nicht mehr sofort ablehnend ihm gegenüber. Er durfte bei ihnen stehen, ab und zu wurde er sogar eingeladen, mitzuspielen.
Es stellte sich heraus, dass er nicht nur gut raufen und mit Stöckern pieken konnte. Nein, er war sehr geduldig darin, kichernde vierjährige Meerjungfrauen aus dem Meer zu angeln oder als tapferer Ritter gegen feuerspeiende Drachen zu kämpfen, um holde vierjährige Prinzessinnen aus Schlössern zu befreien. Er konnte sehr gut Fußball spielen und wurde ein begehrter, gern gewählter Torjäger. Er war wirklich geschickt darin, Schnecken im dichten Gestrüpp zu finden. Die allerkleinsten Babyschnecken gab er großzügig den nun fünfjährigen kichernden Freundinnen ab und baute ihnen aus Blättern kleine Gehege, in denen die Babys wohnen konnten. Den selben Fünfjährigen brachte er galant bei, wie man auf die höhsten Bäume klettert und wie man mit dem Taschenmesser einen echt guten Indianerbogen schnitzt. Im Kindergarten wurde er in seinem letzten Jahr zum Gruppensprecher ernannt – eine Position, die die Kinder durch Wahl selbst besetzen. Niemand hatte mehr Angst vor ihm. Zu seinem 6. Geburtstag lud er meine Töchter auf sein Fest ein. Es waren zehn Kinder anwesend – alles seine Freunde.
Wenn ich also von Eltern gefragt werde, was sie mit dem fremden Spielplatz-Rowdy tun sollen, der immer die anderen, friedlichen Kinder drangsaliert, dann antworte ich: Sei bedürfnisorientiert! Schau hinter das Verhalten des fremden Kindes. Finde heraus, was es wirklich braucht und versuche, es ihm zu geben.
Das ist sicherlich nicht der leichteste Weg, das gebe ich gern zu. Es verlangt von uns Großen vermehrte Achtsamkeit, vermehrte Aufmerksamkeit und die Fähigkeit, zu verzeihen, wenn man eigentlich nur wütend sein will, weil das eigene Kind verletzt wurde. Möglicherweise übersteigt das eure momentane Kraft – das ist okay, das geht mir auch manchmal so. Aber behaltet im Hinterkopf, was ihr euch wünschen würdet, wenn dieser Spielplatz-Rowdy euer Kind wäre und ihr als seine Mutter oder als sein Vater am Ende mit eurem Latein wärt. Würdet ihr euch wünschen, dass andere Eltern euer Kind zurecht weisen und ausschimpfen? Oder würdet ihr euch wünschen, es gäbe eine Person da draußen, die ihm zuhört, ihr Herz öffnet und ihm das gibt, wofür ihr momentan keine Kraft habt?
Ich wünsche mir, dass wir wieder dahin zurückkehren, dass ein ganzes Dorf (oder eben der ganze Stadt-Kiez) ein Kind erzieht; aber diesmal auf bedürfnisorientierte, behutsame Art und Weise. Es wäre so eine Erleichterung für uns alle, wenn diejenigen Mütter, die gerade genug Kraft und Ressourcen haben, die fremden Spielplatz-Rowdys mit Liebe und Verständnis auffangen würden, statt ihnen ablehnend und feindlich gegenüber zu stehen. Es wäre wunderbar, weil so unsere eigenen Kinder von uns lernen würden, hinter die Fassade von gemeinem Verhalten zu schauen und die echten Bedürfnisse von anderen zu erkennen. Bestenfalls gewinnen sie dabei einen Freund fürs Leben.
Für J.,
die meine wütenden Töchter nach der Geburt unseres kleinen Sohnes emotional auffing, als ich nicht die Kraft dazu hatte <3.