Vor einiger Zeit postete ich dieses Zitat auf meiner Facebookseite:
Sei nicht genervt,
weil sie Deine Zeit beanspruchen,
sondern freue Dich darüber,
dass Du ihr Lieblingsmensch bist.
Dieser Spruch fiel mir ein, als ich letzte Woche mit dem Bub vier Uhr morgens auf der Wohnzimmercouch lag, weil er nicht schlafen konnte. Ihn schmerzte und nervte ein fieser Reizhusten, weswegen ich aus dem Familienbett geflüchtet war. Der Bub turnte verzweifelt mehrere Stunden (insgesamt fünf!) auf mir herum, während er sein Gesicht tief in meinen Pulli vergrub. Immer wieder schloss er erschöpft die Augen und nickte kurz ein, bis der nächste Hustenreiz ihn erneut aus dem Schlaf riss. Und ich? Ich war hundemüde, aber nun mal die einzige Person, deren Nähe er akzeptierte und dankbar annahm. In solchen Nächten würde ich dieses Privileg äußerst gerne an meinen Mann abtreten, aber da lässt der Bub nicht ansatzweise mit sich reden…
Inhalt
Mama macht!
Bereits vor einigen Monaten zeichnete sich ab, dass ich sein absoluter Favorit bin, wenn er die Wahl zwischen Thomas und mir hat. Nur ich darf ihn ins Bett bringen (in den ersten Lebensmonaten durfte Thomas ihn zumindest im Tragetuch ins Traumland befördern), nur ich darf ihn nach dem Aufstehen aus dem Bett nehmen. Er lässt das Waschen, Anziehen und Windelwechseln bereitwilliger zu, wenn ich ihm an die Wäsche will. Und auch sonst gibt es viele Situationen, in denen er explizit nach mir bzw. meiner Hilfe verlangt.
Wir nehmen das gelassen, vielleicht weil unser Mädchen (5 Jahre) diese Phase ebenfalls mitnahm und wir daher wissen, dass sie irgendwann ein Ende finden wird. Als der Bub jedoch vor einigen Tagen völlig hysterisch reagierte, nur weil Thomas seinen Sicherheitsgurt im Auto lösen wollte (MAMA MACHT!), fragten wir uns, ob die Große auch so „schlimm“ war und wir das bereits verdrängt hatten oder ob der Kleine eine völlig neue „Mama-Dimension“ betritt.
Krankheit und Unwohlsein machen alles schlimmer
Zu seiner Verteidigung muss gesagt werden, dass ihn körperlich in den letzten Tagen so einiges plagte: Bindehautentzündung (mehrfach von einem Auge auf das andere wechselnd), Erkältung mit hohem Fieber, vier auf einmal wachsende Backenzähne (glücklicherweise die letzten) und immer wieder „Aua Rücken“ und „Aua Bein“ (Wachstumsschmerzen?).
Jedenfalls darf ich seit einigen Tagen den Sicherheitsradius von wenigen Zentimetern nicht verlassen, weil er mir sonst schreiend folgt, als ginge es um sein Leben. Das heißt ich schleppe ihn immer und überall mit, auch wenn ich nur kurz eine Socke aus dem Schlafzimmer holen oder in den Briefkasten schauen will.
Der aktuelle Zustand ist sauanstrengend für alle Beteiligten. Sonst gelang es Thomas gut, mir kleine Zeitfenster (zum Duschen oder Verschnaufen) zu verschaffen, ganz einfach indem er mit ihm spielte. So verbrachten die beiden auch einige, entspannte Stunden, wenn ich mit dem Mädchen reiten ging oder morgens zum Yoga. Momentan hilft noch nicht mal die Wunderwaffe Handy – selbst beim verlockendsten Video schlägt der Kleine Alarm, sobald er mitbekommt, dass ich mich auf Zehenspitzen davon schleichend abseilen möchte.
Doch auch wenn ich bei ihm bleibe, bricht er regelmäßig in Tränen aus und zwar dann, wenn Thomas seinen Sicherheitsradius betritt. Wenn er ihm beispielsweise die Jacke ausziehen will, den Kopf streichelt und manchmal sogar schon, wenn er ihn einfach nur anschaut. Oder wenn Thomas sich herausnimmt etwas zu machen, das ich viel, viel besser kann, wie die Musik im Auto aufdrehen…
Die Nummer 1: Bindungshierarchie nach Bowlby
Im Prinzip ist das Verhalten von Nestling Nr. 2 (genau wie das seiner Schwester damals) ein sicheres Zeichen dafür, dass zwischen uns eine gute, sogenannte „sichere“ Bindung besteht (siehe auch „Bowlbys Bindungstheorie“). Da ich die meiste Zeit mit ihnen verbrachte und immer prompt, zuverlässig und einfühlsam auf ihre Bedürfnisse reagierte, wurde ich für meine Kinder unweigerlich zu ihrer Bezugsperson Nr. 1.
Thomas ist für sie ebenfalls eine wichtige Bezugsperson. Er kümmerte sich vom ersten Tag an beruflich bedingt zwar weniger oft, aber mindestens genauso liebevoll um sie, so dass auch zwischen ihnen tiefe Liebe und eine gute Bindung entstand. Dennoch lehn(t)en sie ihn phasenweise ab. Das mag auf den ersten Blick verwundern, ist aber völlig normal wie Katja vom Blog „Das gewünschteste Wunschkind“ erklärt:
Der Bindungsforscher John Bowlby hat herausgefunden, dass es eine sogenannte Bindungshierarchie gibt, die im Prinzip wie eine Pyramide aufgebaut ist. An oberster Spitze steht die Bindungsperson Nummer 1 – normalerweise die Mutter (es kann aber auch jede andere Bezugsperson sein). Darunter kommt Bindungsperson Nummer 2 (häufig der Vater oder eins der Geschwister), darunter kommen 3, 4, 5 usw… Diese Nummer 2 wird von dem Baby oder Kleinkind ebenfalls sehr geliebt, aber – und hier kommt der springende Punkt – eben nicht so abgöttisch, wie Nummer 1.Das bedeutet, dass das Kind in Situationen, die für es stressig sind oder ihm Schmerzen verursachen, immer die Nummer 1 bevorzugen wird, denn bei ihr reagiert sein Körper am schnellsten mit der Ausschüttung des Glückshormons Oxytocin und die Beruhigung setzt sofort ein. Bei allen anderen Bindungspersonen dauert das Trösten weit aus länger. […]
Vor diesem Hintergrund ist es durchaus verständlich, warum ein Kind vehement nach der Bindungsperson Nummer 1 schreit, wenn es in Not ist (und Not bedeutet aus Kindersicht auch, ins Bett gebracht zu werden): Haben wir Erwachsene Kopfschmerzen, greifen wir ja auch lieber zu dem Schmerzmittel, das sofort wirkt und nicht erst in einer halben Stunde, wenn wir die Wahl haben. Ist aber nur das Schmerzmittel da, welches in einer halben Stunde wirkt, dann sind wir dankbar, dieses nehmen zu können. Genauso ist es mit Nummer 1 und Nummer 2. Ist Bindungsperson Nummer 1 da, wird sie immer bevorzugt. Ist jedoch nur Nummer 2 da, weil Nummer 1 beispielsweise arbeitet, dann klappt das Trösten und ins Bett bringen auch. Es mag ein bisschen länger dauern und nicht ganz so reibungslos verlaufen, aber es funktioniert.
Es geht nicht nur uns so…
Für mich ist es immer beruhigend zu lesen, dass solche Phasen einen guten Grund haben und dass es vielen anderen Müttern und Vätern auch so geht. Ja Mütter wie Väter werden offenbar gleichermaßen zu Lieblingsmenschen auserkoren (siehe auch „Nee Du nich! Papa soll!“).
Im Alltag, wenn der Bub so wie momentan unentwegt an mir haftet, sind die ähnlichen Erfahrungen anderer jedoch wenig hilfreich. Obwohl Thomas die Ablehnung des Kleinen wirklich gut wegsteckt und er vorwiegend gelassen darauf reagiert, sehe ich manchmal seinen enttäuschten „Dann geh doch zu Mama! – Blick“. Aber auch für mich als Nummer 1 ist es nicht leicht, weil er eben vorzugsweise meine Schulter zum Austoben Ausweinen benötigt und ich entsprechend sein Auffanglager für all seine emotionalen Ausbrüche bin. Weil mich niemand ablösen kann und der Bub in den schlimmsten Zeiten rund um die Uhr an mir klebt.
Wie gehen wir damit um?
Nun, ich gehöre zu den Müttern, die ihre Kinder nicht lange weinen hören kann. Es bricht mir das Herz, wenn sie aufrichtig traurig sind. Immer noch. Obwohl sie schon lange keine Babys mehr sind. Deswegen versuche ich da zu sein, wenn der Bub verzweifelt seine Ärmchen nach mir austreckt und „MAMI!“ schluchzt. In solchen Situationen kann ich nicht aus der Ferne zusehen, nur damit er sich daran gewöhnt bei einer anderen Person Trost zu suchen. Mal davon abgesehen, dass ich das Thomas gegenüber furchtbar unfair fände. Also den Kleinen bei ihm zu lassen, wenn er sich mit Händen und Füßen gegen ihn wehrt. Das schürt die Ablehnung doch nur unnötig…
Grundsätzlich gebe ich den Bub sehr gerne zu Thomas oder Omi, allerdings nur wenn ich weiß, dass es ihm dabei gut geht. Wenn er sich bei Trennungskummer schnell wieder von ihnen trösten lässt und überwiegend spielt. Ist er untröstlich und so anhänglich wie derzeit, bleibe ich lieber bei ihm. Oder zumindest in greifbarer Nähe.
Trotz allem gibt es Situationen, in denen ich nicht für ihn da sein kann bzw. will. Zum Beispiel, wenn er anfängt nach mir zu weinen, während ich mit eingeschäumten Haaren unter der Dusche stehe. Das passiert eigentlich nicht so oft, weil er sich gerade häufig mit in die Dusche mogelt, dieser geschickte, kleine Kerl. Aber wenn ich denn mal die Chance auf einen ungeteilten Duschstrahl habe und er ruft, dann flitze ich nicht sofort los, um ihn zu trösten. Dann vertraue ich darauf, dass er die wenigen Minuten, in denen ich mich fertig machen möchte, bei Thomas übersteht.
Thomas’ Aufgabe besteht aber nicht nur darin, der Lückenfüller zu sein, sondern stets am Beziehungsball zu bleiben. Ich ziehe meinen Hut vor ihm, weil er nicht einfach beleidigt abdampft und die Nestlinge links liegen lässt, wenn sie ihn ablehnen. Nein, er ist diesbezüglich unfassbar geduldig und beharrlich. Er bietet dem Bub immer wieder Hilfe an und zeigt ihm seine Zuneigung (Kuss in den Nacken, Streicheln des Köpfchens usw.). Er macht immer wieder aufs Neue Späßchen mit ihm, obwohl er bereits so oft eine Abfuhr kassierte. Er lässt einfach nicht locker und gewinnt dadurch das Herz des Kleinen immer wieder für sich.
Liebe Papas: Haltet durch!
Yasmin vom Blog „Die Rabenmutti“ schreibt passend dazu:
Es ist bestimmt nicht leicht die Nummer 2 zu sein, genauso, wie es oft nicht leicht ist, die Nummer 1 zu sein. Aber wir sind nun mal nicht Eltern geworden, weil es leicht ist, sondern, weil wir uns entschieden haben einem kleinen Menschen so viel Liebe wie nur möglich auf den Weg mitzugeben. Dazu gehören auch Geduld, Verständnis und Vertrauen. Liebe Papas: Haltet durch! Bleibt geduldig, zeigt eurem Kind jeden Tag, dass ihr es liebt (mit Zeit, nicht Geschenken). Habt Vertrauen darauf, dass sich das Blatt eines Tages wenden wird. Liebe kann man nicht einfangen und erzwingen. Sie muss von allein auf euch zukommen. Wer aber Liebe gibt, wird sie sicherlich eines Tages zurückerhalten.
Es ist wirklich immer nur eine Phase
Heute morgen flitzte ich alleine in den Keller, um die Waschmaschine zu leeren. Als ich wieder nach oben düste, erwartete mich nicht wie vermutet ein empört schimpfender Nestling. Nein, der Bub kam mir völlig entspannt entgegen. Mit Thomas an der Hand und er sagte: „Komm mit, Papa!“
Thomas und ich, wir waren gleichermaßen überrascht (als hätte der Bub gestern den Entwurf dieses Artikels gelesen…). Und natürlich auch bestätigt in unserer Theorie. Allein die Tatsache, dass wir eine ähnlich stark ausgeprägte Mama-Phase mit unserem Mädchen durchlaufen hatten, gab uns Hoffnung. Der Bub, der sich nach so einer langen, emotionalen Talfahrt – nur mit Mama – wieder aus eigenen Stücken auf seinen Papa einlässt, noch viel mehr.
Schon beim Mädchen haben wir uns „ihrem Willen gebeugt“ und ihr so viel Mama gegeben wie sie brauchte. Mit drei Jahren hatten wir beide (also sie und ich) eine gewisse Sättigung erreicht. Sie stürmte den Kindergarten und übernachtete freiwillig bei Freunden und Verwandten und ich genoss die Mädchen-freie Zeit. Unser „Bindungstank“ war sozusagen randvoll und wir beide absolut bereit loszulassen. Ein gutes und sicheres Gefühl auf beiden Seiten.
Mit dem Bub wird es ähnlich sein, da bin ich mir sicher. Er klebt und klammert, aber ist genau wie seine Schwester viel zu neugierig, um sich auf Dauer an meiner Seite aufzuhalten. Noch braucht er meinen Halt und meine Rückversicherung, dass ich bei Bedarf immer für ihn da bin. Diese Sicherheit gebe ich ihm von Herzen gerne. Nicht nur weil er dann oft seine Ärmchen um meinen Hals legt und „Dankeschön Mami!“ flüstert, sondern auch weil er ganz gewiss bald wieder seinen Radius von sich aus erweitert und sich ohne Druck und Zwang auf weitere Bezugspersonen einlässt.
Echte Selbstständigkeit wächst durch gute Bindung
Zum Schluss noch ein beruhigendes Zitat von Hanne K. Götze aus dem Buch Kinder brauchen Mütter* (S. 62):
Viele Leute befürchten, dass eine solche enge frühkindliche Mutterbindung ein Kind durch und durch verwöhnt und möglicherweise für immer in der Unselbstständigkeit verharren lässt. Man hält deshalb mütterliches Distanzhalten (auch mal schreien lassen, alleine schlafen lassen, Trennungen jeder Art) für eine Art Selbstständigkeitstraining. Man will den Kindern von klein an Selbstständigkeit beibringen.Doch so paradox es klingt, je besser und je sicherer ein Kind sich binden kann, desto sicherer und selbstständiger wird es werden. Gerade wenn das Kind nichts tun muss, um an Liebe und Geborgenheit satt zu werden, dann wird es sich frei und sicher hervorwagen und die Welt entdecken wollen. Es findet dann faktisch von selbst in eine immer größere Selbstständigkeit und Unabhängigkeit. Echte Selbstständigkeit ist ein seelischer Reifeprozess, den man nicht von außen überstülpen kann, sondern er wächst sozusagen gratis bei guten Bindungsverhältnissen.
Eure Kathrin