Unser Schreibaby

Kathrin Gastartikel 20 Kommentare

Schreibabys seien typisch deutsch heißt es oft. „Die Mütter [primitiver Völker] verstehen es [anscheinend] besser, ihre Babys zu beruhigen, sie halten engen Körperkontakt und stillen mehr“ (siehe die Welt: „Schreibabys sind typisch deutsch„).

Leserin Anna zeigt mit ihrer traurigen Geschichte, dass es Schreibabys nicht nur an Nähe und Zuneigung fehlt. Zehn lange Wochen dauerte es bis Anna die Ursache für das langanhaltende Schreien ihres Babys „Flocke“ herausfand und sich ihr Leben wieder normalisierte. Viel Spaß beim Lesen! Eure Kathrin

Unser Schreibaby (von Anna)

Flocke war bei ihrer Geburt klein, zart und sehr still. Sie quäkte nur ein bisschen, wenn sie hungrig war. Genau so stellten wir uns das Leben mit einem Baby als frisch gebackene Eltern vor, doch nach gerade einmal vier Wochen änderte sich alles urplötzlich.

Das alles passierte schlagartig an einem Freitagabend

Flocke war vier Wochen alt und fing abends auf einmal an zu weinen. Erst weinte sie, dann schrie sie, so hatten wir sie noch nie gehört. Als sie auch nach dem Wickeln und Stillen nicht aufhörte, machten wir uns ernsthaft Sorgen, ob sie krank sei. Sie schrie an diesem Abend vier Stunden am Stück und weder mein Mann, noch ich schafften es, sie zu beruhigen. Irgendwann schlief sie erschöpft in den Armen ihres Papas ein. Die Nacht war unruhig, ständig wachte sie auf und wimmerte und weinte. Der Samstag war die Hölle, denn schon als wir aufstanden, weinte sie los und wir wussten nicht, was mit ihr war. Verzweifelt rief ich meine Hebamme an. Sie sagte, dass sie sicher Bauchweh habe, wir sollen ihr mal ein Kümmelzäpfchen oder Sab Simplex Tropfen geben. Wir versuchten das, obwohl ich tief im Inneren ahnte, dass dieses Schreien nicht von Bauchschmerzen her rührt. Das Wochenende zog sich wie Kaugummi, denn nichts konnte unser Kind beruhigen und wir waren wie erschlagen von der Flut der Schreie.

Die Nacht von Sonntag auf Montag war schrecklich

Flocke wachte stündlich auf und schrie los, nicht einmal stillen half. Ich trug sie durch die Wohnung, aber war bereits so müde, dass ich vor Erschöpfung zitterte. Gleich um acht Uhr morgens rief ich bei unserer Kinderärztin an, vor Müdigkeit weinte ich am Telefon fast los. Ich wollte einen Termin – gleich – jetzt – sofort. Um neun sollten wir da sein, aber ich weiß nicht genau was ich mir von diesem Termin erhoffte. Man sagte mir, dass mein Kind unter den 3-Monats-Koliken leide. Leider wurde auf meine Argumentation, dass doch vorher auch nie was war, nicht eingegangen. Wir fuhren also nach Hause, meine Flocke und ich, und im Auto musste ich dann erst einmal weinen. Ich wusste, dass mein Kind keine Koliken hatte. Sicher hatte sie Bauchweh vom vielen Schreien, denn dadurch gelangt Luft in den Magen. Aber das Bauchweh kam vom Schreien, nicht das Schreien vom Bauchweh.

Dann begann eine Odyssee

Ein Tag glich dem anderen: Flocke schrie, manchmal sogar bis zu 4-5 Stunden am Stück. Ich trug sie immer bei mir, ganz dicht an meinem Körper. Nie, niemals hätte ich mein Baby alleine gelassen. Ich konnte ihr zwar nicht helfen, aber sie sollte meine Nähe spüren. Sie sollte wissen, Mama ist bei mir und lässt mich nicht alleine. An manchen Tagen fühlte ich mich ohnmächtig, ich funktionierte nur noch. Freute mich, wenn Flocke für zehn Minuten im Arm einschlief, doch solche Momente waren rar und deswegen so unglaublich kostbar. Mein Mann, der wieder arbeiten ging, nachdem er anfangs drei Wochen daheim war, bekam nur die Spitze des Eisberges mit. Manchmal fragte er mich Dinge wie: „Willst du nicht auch mal wieder zu einer Freundin fahren?“ oder „Geh doch mal spazieren mit ihr“. Solche Fragen raubten mir den Verstand, ich hatte keine Kraft zu antworten. Wie gerne wäre ich mal wieder raus, aber mein Kind schrie und nichts half dagegen! Wie sollte ich also irgendwohin mit ihr? Ab und zu fuhr ich zu meinen Eltern, Flocke schrie im Auto und quäkte bei meinen Eltern weiter, aber ich spielte die Situation herunter. Hilfe wollte ich keine, ich wollte es alleine schaffen. Immer mehr Zweifel nagten an mir, ich machte mir Vorwürfe, zweifelte an meinem Mutterinstinkt. Hadert Flocke so sehr mit dieser Welt? Warum kommt sie nicht hier an?

Wochenlang ging das so weiter: aufstehen unter Geschrei, essen mit Geschrei, einschlafen unter Geschrei

Mein Mann und ich konnten nur etappenweise essen, einer von uns hatte Flocke immer bei sich, um ihr Trost zu spenden. Normale Gespräche waren schlicht nicht mehr möglich, nur das Nötigste wurde gesagt wie: „Ich bin duschen“ oder „Ich muss zur Toilette“. Es gab keine Unterhaltungen mehr, alles drehte sich um Flocke und ihr Geschrei. Mein Mann nahm mir Flocke so oft es ging ab, doch das half nichts, denn selbst zwei Räume weiter hörte ich mein Kind schreien und mein Instinkt zwang mich wieder zu ihr zu gehen.

Nach 4 Wochen kam der Höhepunkt

Flocke fing nachts um 3 Uhr an zu weinen, schlief dann für drei Stunden ein und um 6 Uhr früh fing sie wieder an zu weinen bis 15 Uhr, mit einer Schreipause von gerade einmal zwanzig Minuten. Gegen 15 Uhr kam mein Mann endlich nach Hause und an dem Tag war bei mir der Punkt erreicht, an dem ich ihm Flocke in die Hände drückte und sagte: „Ich kann nicht mehr! Du musst sie jetzt nehmen, sonst brech ich zusammen“. Ich legte mich ins Bett, zog die Decke über meinen Kopf und weinte. Im Nebenzimmer hörte ich meine kleine Tochter verzweifelt schreien. In mir nagten Zweifel. Ich zweifelte an mir, daran, ob ich eine gute Mutter bin, denn welche gute Mutter muss mit ansehen wie sich ihr Kind die Seele aus dem Leib brüllt? Viele sagten zu mir, dass ich mal raus muss und abschalten, aber selbst wenn ich gegangen wäre, mein Gewissen, mein Verantwortungsgefühl, mein Mutterinstinkt hätten mich sofort zurück geschickt. Nein, niemals hätte ich mein Baby alleine gelassen oder jemand anderem gegeben, Flocke sollte wissen dass ich für sie da bin.

Wir probierten einfach alles

Wir trugen sie, gaben ihr Zäpfchen, badeten sie, machten ihr Tee, legten uns mit ihr in ein dunkles Zimmer, sie auf unseren nackten Oberkörper. Wir haben sie abgeschottet und von allen Einflüssen wie andere Menschen, Fernsehen, Radio ferngehalten, weil wir dachten sie ist reizüberflutet. Keine Ahnung, ob ich etwas vergessen habe aufzuzählen, aber wir haben wirklich alles probiert. Eines abends dachte ich mir, entweder wir resignieren jetzt und nehmen das so hin oder wir unternehmen endlich was, denn normal kann das nicht sein. Mein Baby schreit nun schon sechs Wochen. Es braucht dringend Hilfe!

Schreiambulanz

Ich recherchierte im Internet, fand die Adresse einer Schreiambulanz und machte dort einen Termin. Wir gingen vor diesem Termin auch nochmal zu unserem Kinderarzt um wirklich ausschließen zu können, dass ihr körperperlich etwas Schmerzen bereitet. Ich wollte sogar, dass sie Flocke auf Milchunverträglichkeit testen. Ich griff wirklich nach jedem Strohhalm. Diesmal nahm sich die Kinderärztin richtig viel Zeit und uns ernst. Feststellen konnte sie nichts, aber sie war sehr verständnisvoll und befürwortete unseren Besuch bei der Schreiambulanz. Ich versprach mir viel von dem Besuch. Die Dame, die uns beriet war sehr sympathisch und verfügte über einige Tipps, aber letztendlich war auch sie ratlos. Eindeutig war, dass Flocke zu wenig schlief. Kein Wunder, denn sie schrie statt zu schlafen. Sie riet uns ein 24-Stunden-Protokoll zu führen, wann sie isst, schläft, schreit und damit sollten wir dann wieder kommen. Alleine das Reden und ihr Verständnis taten so gut, mein Mann und ich gingen fast schon euphorisch nach Hause. Besser wurde es aber nicht und auch das Protokoll brachte nichts neues ans Tageslicht. Wir bekamen gezeigt, wie wir Flocke beruhigen können. Wir sollten die Ärmchen auf die Brust legen und festhalten, während wir mit ihr sprachen, allerdings brachte das Flocke noch mehr in Rage.

Osteopathie

Mein allerletzter Strohhalm (Flocke schrie nun schon fast 10 Wochen) war ein Osteopath. Die Beraterin der Schreiambulanz schlug uns das auch vor, da Flocke sich immer ganz schlimm überstreckte. Zu dem Zeitpunkt hatte ich schon, auf Anraten einer Bekannten, einen Termin vereinbart. Wie ich bereits sagte, griff ich nach jedem noch so kleinen Strohhalm. Viel versprachen wir uns nicht davon. Ich ging, der Resignation nahe, zu der Praxis, mein Würmchen im Tuch (ausnahmsweise mal schlafend) und harrte der Dinge, die da wohl kommen. In der Praxis wachte Flocke auf und gab gleich lauthals zu verstehen, weswegen wir da waren. Der Osteopath hörte sich in aller Ruhe meinen Bericht an, er fragte mich wie die Schwangerschaft und die Geburt verliefen und ließ sich nicht durch Flockes Schreien aus der Ruhe bringen. Als wir mit Reden fertig waren, bat er mich Flocke auf die Liege zu legen. Er zog ihr die Socken aus und fing an, ihre Füße zu „kneten“. Flocke schrie immer noch, während ich daneben stand und versuchte nicht mitzuweinen. Der Osteopath arbeitete sich langsam ihren winzigen Körper hoch und als er an den Schultern und am Hals angekommen war, lief Flocke rot an und japste nach Luft. Das war schrecklich zu sehen, aber keine zehn Sekunden später war Ruhe. Sie lag total entspannt da, schaute mich an und der Osteopath erklärte mir, dass Kaiserschnitt-Kinder oft Blockaden haben, da sie nicht den natürlichen Weg über den Geburtskanal genommen haben. Er erklärte mir jeden Handgriff, aber ich überhörte fast alles, weil ich mich so auf mein Kind konzentrierte. Nach gut 40 Minuten verließen wir die Praxis, Flocke schlief. Mit den Worten, dass es ein paar Tage dauern kann, bevor ich eine Veränderung bemerke, ging ich nach Hause. Zu Hause angekommen das alte Spiel: Sie wachte auf und schrie. An diesem Nachmittag war meine Cousine zu Besuch, sie hatte sich sehr auf Flocke gefreut, aber die Ratlosigkeit und die Bedauerung standen ihr ins Gesicht geschrieben.

Auch der nächste Tag verlief wie eh und je

Unsere Flocke schrie fürchterlich. Ich will nicht sagen, dass ich abgehärtet war zu dem Zeitpunkt, sie tat mir entsetzlich leid und ich trug sie den ganzen Tag mit mir herum, denn sobald ich sie ablegte wurde das Schreien noch viel schlimmer. Aber wenn man über Wochen mit so einem Geräuschpegel lebt, dann gewöhnt man sich schon fast daran. Für mich war das Alltag, ich hatte eigentlich abgeschlossen damit und zweifelte sogar, dass die osteopathische Behandlung anschlägt. Ich war der festen Überzeugung, dass das ewig so bleiben würde. Ich blickte oft aus dem Fenster, sah Mütter mit Kinderwägen an unserem Haus vorbeilaufen und ertappte mich häufig bei dem Gedanken, dass es einfach nicht fair ist, dass mein Kind, welches schon so einen schlimmen Start hatte nun auch noch das durchmachen muss. Ich war fast schon eifersüchtig auf diese fremden Frauen und ihre ruhigen Babys im Kinderwagen.

Tag 3 nach der Behandlung brachte allerdings die Veränderung, mit der niemand mehr von uns gerechnet hatte

Mein Mann und ich saßen auf dem Sofa, Flocke schreiend auf meinem Arm. Irgendwann holte mein Mann ihr Mobile aus ihrem Zimmer und wir legten sie zwischen uns. Auf einmal hörte sie auf zu weinen und beobachtete die sich drehenden Tierchen über ihr. Sie schlief ein, ohne Schreien, ohne Arm. Sie schlief nicht lange, vielleicht eine halbe Stunde und als sie aufwachte war alles anders. Sie weinte nicht gleich los, sondern sah uns aufmerksam an. Ich stillte sie und mein Mann und ich konnten an diesem Abend das erste Mal wieder gemeinsam zu Abend essen. An den darauffolgenden Tagen entspannte sie sich zunehmend. Sie weinte zwar noch oft, aber nie lange und sie ließ sich beruhigen, was vorher unmöglich war. Wir fühlten uns wie in einem anderen Leben, endlich hatten wir unser Baby zurück, ein kleines glückliches Kind, das in der Welt angekommen schien.

Zwei Wochen darauf waren wir erneut bei dem Osteopathen, hauptsächlich um uns zu bedanken. Der Gedanke, dass Flocke die ganze Zeit schrie, weil sie Schmerzen hatte, für uns ein unerträgliches Gefühl. Er behandelte Flocke noch ein Mal und entließ uns. Sie hatte eine schlimme Blockade in der Halswirbelsäule und eine am Schlüsselbein. Ich will nicht von Wunderheilung sprechen, aber seit diesem Erlebnis würde ich allen Eltern von Schreibabys zu einem Besuch bei einem Osteopathen raten. Die Krankenkasse zahlt das leider nicht, aber es ist jeden Cent wert.

An alle Eltern, denen es genauso geht

Ich kann euch wirklich nur mit auf den Weg geben, nicht zu verzweifeln, sich und vorallem nicht dem Baby die Schuld an der Situation zu geben. Seid für eure Kinder da, gebt ihnen soviel Liebe und Wärme wie ihr aufbringen könnt und lasst sie wissen, dass ihr ihnen zur Seite steht, auch wenn ihr nicht helfen könnt. Wenn es euch zuviel wird, und dieser Punkt wird irgendwann kommen, dann holt euch Hilfe, von Omas oder Tanten oder guten Freunden. Manchmal ist eine halbe Stunde Ruhe schon so wertvoll, um den Akku wieder aufzuladen. Ihr als Eltern müsst zusammen halten, egal wie unerträglich und schwer die Situation ist. Macht euch bewusst, dass es irgendwann besser wird und dass dieses Schreien aufhören wird. Bei manchen Kindern sind es vielleicht tatsächlich Koliken, bei anderen Geburtstraumen, bei wieder anderen organische Ursachen – was es auch ist, befindet ihr euch in solch einer Situation, sprecht mit dem Kinderarzt, eurer Hebamme oder sucht Hilfe übers Internet, z.B. bei einer Schreiambulanz.

Ich weiß wie ohnmächtig, hilflos, überfordert und betrogen man sich fühlt

Betrogen um eine schöne Anfangszeit und einen guten Start, aber unsere Flocke hat uns das alles mehrfach schon längst wieder zurückgegeben. Sie ist ein so liebes und süßes Mädchen und sieht man sie heute würde niemand auf die Idee kommen, dass dieses Kind ein Schreibaby war, welches über zehn Wochen lang täglich schrie.

„Es ist leicht, sein Kind zu lieben, wenn alle Welt es liebt und jeder gut zu ihm ist. Die Herausforderung für dich besteht darin, es zu lieben, wenn es sich von der Welt unverstanden fühlt.“ Sigrid Leo

Anna, ich danke Dir von ganzem Herzen für diesen ergreifenden Artikel!

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